expand_less zum Stadtmuseum Münster

Fotorecherche

Wer ist der Tote im Sarg? – „CSI“ im Stadtmuseum

Vier alte Fotos eines pompösen Trauerzugs in Begleitung zahlreicher Soldaten – wer ist der Tote, wann und wo fand dieser Trauerzug statt? Wie kommt man zur Geschichte hinter den Bildern, wenn man erst einmal keine Informationen über sie hat?

Ich bin Alina, ich war im Herbst 2012 Praktikantin im Stadtmuseum Münster. Gleich in den ersten Tagen habe ich eine spannende Aufgabe bekommen: Das Museum hat bei einem Trödler vier historische Fotos angekauft, die verschiedene Aabschnitte eines militärischen Trauermarsches zeigen. Zwei Fotos zeigen das gleiche Motiv. Es sind keine konkreten Informationen bekannt, z.B. wer auf den Bildern zu sehen ist oder von wann die Fotos sind. Ich soll so viel wie möglich über diese Fotos und ihre Hintergrundgeschichte herausfinden – vor allem: Wer ist der Verstorbene und warum wurde er in einem so aufwändigen Trauerzug durch die Stadt auf seiner letzten Reise begleitet? Der Tote kann kein einfacher Bürger gewesen sein. Da die Fotos inventarisiert werden sollen, ist es notwendig, so viele Fakten wie möglich zu ermitteln. Fotos aus der Zeit des Drittes Reiches, auch solche mit Hakenkreuzfahnen und Soldaten, gehören eben auch zur Stadtgeschichte Münsters, die vom Stadtmuseum gesammelt und dokumentiert wird. Langfristig sind sie wichtige Quellen und Dokumente für die Zeit von 1933 bis 1945. Mir ist schon ein bisschen unbehaglich dabei, gerade diesen Teil der Geschichte zu „durchleuchten“.

Das Ganze erinnert mich trotzdem ein bisschen an „CSI-Arbeit“ wie sie im Moment in den populären amerikanischen Fernsehserien über die Spurensicherung von Tatortermittlern geschildert wird: Man sammelt alle Spuren und Hinweise, die man nur finden kann, und versucht diese zu analysieren und Erkenntnisse aus ihnen zu gewinnen. Besonders der Blick auf kleine und kleinste „Spuren“ kann dabei zum Erfolg führen. Näheres siehe unter http://de.wikipedia.org/wiki/Spurensicherung

Mal sehen, wie weit und vor allem wohin mich diese „Detektivarbeit“ führt:

Die Fotos

Zunächst schaue ich mir die Fotos des Trauermarsches genauer an: Vorne weg geht ein Militärkapelle mit Trommeln, Trompeten und allem, was dazugehört. Es folgen zahlreiche Soldaten in feierlicher Haltung mit Gewehr in der linken Hand, viele tragen Stahlhelme. Dahinter fährt eine Kutsche, auf der man einen mit einer Hakenkreuz-Flagge verhüllten Sarg erkennt. Der Kutsche wiederum folgt eine weitere Fußgruppe mit Zivilisten und Soldaten, darunter scheinen hochrangige Offiziere zu sein.

Meine wirkliche Recherchearbeit beginnt aber nicht mit dem, was man vorne auf den Fotos sieht, sondern mit der Rückseite – alle vier Fotos tragen den Stempel Photohaus Steinfurterstraße 172.

Das legt die Vermutung nahe, dass die Fotos in Münster entstanden sein könnten, denn auch hier gibt es noch heute eine Steinfurter Straße. Vielleicht fand sogar genau dort der Trauerzug statt? Dies war auch der Grund, warum die Fotos überhaupt vom Museum angekauft wurden.

Das Stadtmuseum Münster besitzt viele Adress- und Einwohnerbücher aus fast allen Jahren des 20. Jahrhunderts. Da die Fotos Mitglieder der Deutschen Wehrmacht zeigen, ist davon auszugehen, dass sie 1935 oder später gemacht wurden. Dr. Bernd Thier, Historiker am Stadtmuseum, erklärt mir, dass die Zugehörigkeit der Soldaten zur Wehrmacht an den Uniformen und u.a. am Reichsadler auf den Stahlhelmen zu erkennen ist, der bei der älteren Deutschen Reichswehr noch nicht auftrat.

Zur Reichswehr siehe http://de.wikipedia.org/wiki/Reichswehr

Zur Wehrmacht siehe http://de.wikipedia.org/wiki/Wehrmacht

Durch das Gesetz für den Aufbau der Wehrmacht vom 16. März 1935 wurde aus der Reichswehr die Wehrmacht und auch die allgemeine Wehrpflicht im Deutschen Reich wieder eingeführt. Die Fotos müssen also nach diesem Datum entstanden sein.

Der Fotograf

Ich nehme mir also zuerst das Einwohnerbuch von 1934/1935 vor. Dort gibt es nicht nur, wie man das von heutigen Telefonbüchern kennt, ein Namensverzeichnis, sondern auch ein Straßenverzeichnis. Man kann nach einer bestimmten Straße und Hausnummer suchen, unter der dann alle Bewohner des Hauses aufgelistet sind. Datenschutz wurde damals offenbar nicht so groß geschrieben.

Unter Steinfurter Straße 172 finde ich unter anderem den Eintrag Wisnewski, Walter, Photograph – Volltreffer! Das Foto ist also tatsächlich zumindest in Münster entwickelt worden. Jetzt, da ich auch den Namen des Fotografen kenne, durchsuche ich alle Adressbücher vor und nach 1934/1935 nach Walter Wisnewski, um noch mehr über ihn herauszufinden – und werde fündig:

Der Fotograf Walter Wisnewski (die Schreibweise seines Namens ist nicht einheitlich) wird 1927 zum ersten Mal erwähnt, damals wohnte er noch an der Steinfurter Straße 132. Etwa Ende der 1920er oder Anfang der 1930er Jahre zog er in das Haus Nummer 172, dort wohnte er bis mindestens 1935. Ab etwa 1939 wird er dann in der Steinfurter Straße 43 erwähnt. Um 1965/1966 zog er sich offenbar von seinem Beruf zurück, denn ab da ist er in den Adressbüchern nicht mehr als Fotograf, sondern als Rentner vermerkt. Er wohnte aber noch weiterhin im Haus Nummer 43 und starb vermutlich um 1974, denn ab jenem Jahr ist nur noch Helene Wisnewski, vermutlich seine Frau, vermerkt. Sie zog 1988 in die Raesfeldstraße 80/82 im Kreuzviertel und starb wahrscheinlich 1991.

Der Zeitpunkt

Ich bin erstaunt und begeistert, was man alles anhand von einigen Fotos und alten Adressbüchern herausfinden kann! Durch diese neuen Informationen ist das Entstehungsdatum des Fotos schon ziemlich eng eingegrenzt: Es kann nicht vor April 1935 gemacht worden sein, da es Mitglieder der Wehrmacht zeigt, und nicht nach 1938, da sich die angegebene Adresse des Fotografen spätestens 1939 geändert hatte.

Der Ort

Aber wo spielt sich die Szene ab? Die Tatsache, dass der Fotograf aus Münster kam, muss nicht unbedingt bedeuten, dass die Fotos auch in Münster entstanden sind. Der Fotograf könnte die Aufnahmen ja auch an einem anderen Ort gemacht haben. Ich schaue mir deshalb die Bilder noch mal ganz genau mit einer starken Lupe an und entdecke auf einem von ihnen im Hintergrund einen Schriftzug an einer Hauswand, den man mit bloßem Auge kaum erkennen kann. Ich vergrößere diesen Ausschnitt des Fotos und kann Anton Effi… Werkstatt oder Werkstätten entziffern.

Also nehme ich noch mal das Einwohnerbuch von 1934/1935 zur Hand und schlage unter Effi… nach – wieder ein Volltreffer! Effing, Anton, Möbeltischlerei, Warendorfer Straße 131 steht dort.

Möbeltischlerei Anton Effing

Ich vergleiche dies noch einmal mit dem Bild – der Name Effing passt zum Schriftzug, auch wenn man die letzten Buchstaben nicht ganz genau erkennen kann.

Ich wälze noch mal alle Adressbücher vor und nach 1934/1935 und kann auch über diesen Menschen viel in Erfahrung bringen: Der Schreiner Anton Effing wird schon ab 1914 erwähnt und hatte bis ca. Ende der 1920er Jahre eine Tischlerei in der Beckhoffstraße 11. Spätestens ab 1934/1935 ist er mit seiner Möbeltischlerei dann in der Warendorfer Straße 131 tätig, dort ist schon zwei Jahre früher ein gewisser Hermann Effing als Schreiner eingetragen – vielleicht sein Vater? Anton Effings Werkstatt blieb an dieser Adresse bis mindestens 1950. Ungefähr 1953 zog er mit seiner Werkstatt dann in die Mühlenstraße 12, in der Nähe der Aegidiistraße. Ende der 1970er Jahre setzte Anton Effing sich zur Ruhe, seine Tischlerei bestand aber noch mindestens bis 2002, vielleicht von einem Sohn in seinem Namen weitergeführt.

Nun steht also auch der exakte Ort des Geschehens fest – im fraglichen Zeitraum von 1935 bis 1938 befand sich die Werkstatt Anton Effings eindeutig an der Warendorfer Straße 131. Die Fotos zeigen den Trauermarsch, wie er gerade dort vorbeizieht. Ich kann auch feststellen, dass sich die Soldaten stadteinwärts bewegen, denn Effings Werkstatt, die ja eine ungerade Hausnummer hat, befindet sich zu ihrer Rechten. Ich schaue auf den Stadtplan – die Warendorfer Straße 131 befindet sich genau auf Höhe des Mauritz-Friedhofs, der das Ziel des Trauerzugs gewesen sein könnte.

Die Anwesenden

Jetzt kennen wir die Hintergründe des Fotos – wir wissen, wo, wann und durch wen es entstanden ist. Aber wer ist der Tote? Was hatte er für eine Funktion, dass ihm zu Ehren ein so großer Trauerzug veranstaltet wurde? Es muss ziemlich wichtig gewesen sein, warum hätte sich sonst ein Berufsfotograf von der Steinfurter Straße quer durch die Stadt auf den Weg gemacht, um an der Warendorfer Straße Fotos des Trauerzugs zu machen? Er wollte sicherlich später Abzüge davon verkaufen. Die vier Fotos vom Trödler stammen von einer Haushaltsauflösung aus einem Nachlass einer Privatperson aus Münster, deren Vorfahren sie in den 1930er Jahren erworben haben.

Um das herauszufinden, schaue ich mir die Uniformen genauer an, besonders die der hochdekorierten Offiziere aus dem hinteren Teil des Zugs. Leider kann ich auch mit einem vergrößerten Ausschnitt nicht viel erkennen, nur hell/dunkel und vage Formen. Ich versuche trotzdem, dazu im Internet zu recherchieren, denn dort kann man Erklärungen zu vielen Effekten, also den Abzeichen auf den Uniformen der Wehrmacht, finden.

Siehe http://de.wikipedia.org/wiki/Uniformen_der_Wehrmacht

Siehe http://de.wikipedia.org/wiki/Dienstgrade_der_Wehrmacht

Leider sind „meine“ Fotos zu unscharf, die Suche nach den genauen Rängen der Uniformen bleibt erfolglos. Es ist auch fraglich, ob man darüber mehr über den Verstorbenen herausfinden kann. Ich bin aber trotzdem überrascht, wie viele detaillierte Angaben man zu kleinen Teilen von Uniformen und Abzeichen der Wehrmacht im Internet finden kann. Für Historiker ergeben sich damit viele Möglichkeiten z.B. Fotos aus der Zeit des Dritten Reiches detailliert zu analysieren.

Und der Tote im Sarg?

Welche Funktion der Verstorben hatte oder wie er hieß, kann man anhand der Fotos allein also leider nicht herausfinden. Dazu müsste man mit etwas mehr Zeit in die Zeitungen der fraglichen Jahre schauen, um vielleicht einen Nachruf oder einen Artikel über den Trauerzug zu finden.

Das einzige, was ich über den Toten weiß, ist, dass er wahrscheinlich ein Soldat war, vermutlich einen sehr hohen militärischen Rang bekleidete und eventuell der Luftwaffe angehörte, denn das kann man auf der Schleife des ersten Kranzes entziffern, und dass er vielleicht auf dem Mauritz-Friedhof begraben wurde.

Da er zwischen 1935 und 1938 bestattet wurde, kann er nicht im Krieg gefallen sein. Der „Fall“ ist also noch nicht gelöst, aber die „Eckdaten“ stehen fest. Mit den ermittelten Angaben lassen sich die Fotos nun erst für die Sammlung des Stadtmuseums inventarisieren. Alles andere bleibt weiteren Forschungen überlassen.

Während der spannenden Recherche habe ich außerdem Walter Wisnewski und Anton Effing „kennengelernt“ und ein wenig über ihre Lebensgeschichte erfahren – das alles nur anhand von vier alten Fotos!