Die Sammlung Berthold Socha
Am 25. September 2019 fand ein wichtiger Termin im Stadtmuseum Münster statt. Allerdings hat Berthold Socha dieses Ereignis nicht in Fotos festgehalten, nicht festhalten können, da er selbst im Mittelpunkt des Geschehens stand. Es ging nämlich um seinen Nachlass aus über fünf Jahrzehnten fotografischer Tätigkeit, den er ebenso feierlich wie förmlich im Beisein von Oberbürgermeister Markus Lewe dem Stadtmuseum Münster vermachte. Zuvor hatten lange und intensive, gute und persönliche Gespräche stattgefunden, in denen klar geworden war, dass das Stadtmuseum Münster in der Tat der richtige Ort für den Nachlass von Berthold Socha ist.
Der Fotograf Berthold Socha
Bereits seit seiner Kindheit faszinierte Berthold Socha die Fotografie. Tief ins Gedächtnis gebrannt ist ihm der Moment, als auf der Flucht aus Ratibor (heute Racibórz) im Jahr 1945 der Mutter alle im spärlichen Gepäck mitgeführten Fotografien weggenommen wurden. Die in Fotos festgehaltene Erinnerung an das Vergangene war damit verloren gegangen, und der Neuanfang in Großenkneten bei Oldenburg war somit auch hinsichtlich der eigenen Bildüberlieferung ein vollständiger Neubeginn. Vor allem durch seine Mutter erhielt Berthold Socha erste Einblicke in fotografische Techniken. Mit 11 Jahren besaß er seine erste eigene Kamera. Früh folgten Besuche der ersten photokina-Messen und nach dem Umzug nach Münster die eigene praktische Erfahrung in der Dunkelkammer. Dabei ist etwas hervorzuheben: Socha hat nie eine professionelle Schulung, geschweige denn eine Ausbildung im Fotobereich erhalten. Er ist ein Autodidakt, der in einem immerwährenden Prozess die eigene Schärfung des Blicks, die Erfassung des richtigen Moments des Auslösens und die technische Beherrschung seiner Kamera optimierte. Nicht zuletzt ist seine besondere Könnerschaft bei der Anfertigung der Fotoabzüge hervorzuheben, die er bis heute in seiner eigenen Dunkelkammer herstellt.
Berthold Socha betont selbst, dass Fotografie – und zwar von der Aufnahme bis zum fertigen Abzug – von Jugend an für ihn Ruhe und Ausgeglichenheit bedeutete. Das Alleinsein bei der Motivsuche mit der Kamera während seiner Streifgänge durch Münster und während der langwierigen Arbeiten in der Dunkelkammer besaß für ihn auch immer etwas Kontemplatives, währenddessen er „gedachte Gedanken weiterdenken“ konnte. Nach Beginn der Berufstätigkeit erfüllte er sich einen lang gehegten Wunsch: den Kauf einer Leicaflex mit dem 50 mm Objektiv. Bald kamen noch die Leica R4 und die Leicaflex SL2 mit 90 mm Objektiv hinzu. Die Traumkamera Leica M6 mit 35 mm Objektiv wurde dann zu seiner ständigen Begleiterin und ist es heute noch. Er blieb, obwohl Diafilm und Farbnegativfilm auch genutzt wurden, dem Material treu, mit dem er sich auskannte: dem analogen Schwarz-Weiß-Film.
Die genaue Anzahl der Negative in seiner Sammlung kennt auch Socha nicht, doch es dürften insgesamt rund 160.000 Aufnahmen sein. Diese stattliche Ziffer ist insofern bemerkenswert, als er nie einen professionellen Auftrag hatte, etwas zu fotografieren. Für ihn bedeutet Fotografieren das Festhalten von Gesehenem, das häufig intuitiv in den Bruchteilen einer Sekunde geschieht. Wegen seiner frühkindlichen Erfahrung des Verlusts der bildlichen Familienüberlieferung ist es Socha ein grundlegendes Bedürfnis, sich durch seine Fotografien eine stetige Erinnerung an Situationen und Begebenheiten zu bewahren. Deutlich wird dabei die fotografische Tradition, in der Berthold Socha steht. Auch er selbst nennt immer wieder drei Namen: Henri Cartier-Bresson, Barbara Klemm und Stefan Moses. Damit sind auch Momente der Fotografie bei Berthold Socha gekennzeichnet, die jeweils über das unmittelbar Abgebildete hinausgehen: Das Festhalten eines besonderen Augenblicks, die Fähigkeit, besondere Situationen in nicht gestellten Fotos zu erfassen sowie mit den Bildern Geschichten zu erzählen.
Dabei war es für ihn stets Berufung und nicht Beruf. So sagte Socha selbst: „Ich bin Amateur …, ich mache einfach Fotos.“ Das heißt nicht etwa, dass die Fotos einfach sind. Vielmehr sind sie das Resultat einer langen Auseinandersetzung mit der Fotografie und ihren Techniken in Verbindung mit einer Fähigkeit, die man nicht erlernen kann, sondern in sich haben muss, was man gemeinhin als den besonderen Blick bezeichnet. Auch wenn sie intuitiv aufgenommen wurde, schwingt in einer guten Fotografie stets die Konzentration, das Beobachten und Erkennen mit und geht eine Verbindung mit großer Erfahrung und technischem Wissen ein. So hat Berthold Socha seine Aufnahmen nie komponiert, vielmehr hat er sich als Fotograf möglichst unscheinbar gemacht, aber stets genau überlegt, wie und wann eine Situation es wert ist, in einer Fotografie festgehalten zu werden. Er sieht so Motive, die andere nicht sehen, und fixiert in einer Momentaufnahme eine Szene, die aus dem Zeitverlauf herausgenommen wird und beginnt, eine eigene Geschichte zu erzählen. Die im Moment des Auslösens fixierte Gegenwart wird in demselben Moment zur künftigen Vergangenheit, an die die Aufnahmen erinnern. Seine Liebe galt dabei der zur neuen Heimat gewordenen Stadt Münster und dem städtischen Leben auf ihren Straßen, die er wie ein Jäger auf der Suche nach Beute stetig durchstreifte. Wie bei jedem guten Fotografen gehört dabei zu jeder besonders guten Aufnahme im öffentlichen Raum auch immer Glück und Zufall.
Das Zufällige ist so auch das Besondere an der Sammlung Socha. Ihr liegt kein Auftrag, keine Bestellung, kein von außen anberaumter Termin zugrunde. Berthold Socha hatte fast immer seine Leica dabei, wenn er nicht in seinem Büro oder zu Hause war, und hat so über einen Zeitraum von mehr als fünfzig Jahren Menschen und Raum in Münster festgehalten. Gerade weil es abseits der offiziellen oder der Auftragsfotografie entstand, ist sein Werk ein unermesslicher Schatz der jüngsten münsterischen Stadtgeschichte. Denn die Aufnahmen entstanden zum überwiegenden Teil im öffentlichen Raum letztlich zufällig durch die gleichzeitige Anwesenheit von Fotograf und Motiv, so dass sein Archiv eine kulturgeschichtliche Quelle Münsters von kaum zu überschätzendem Wert darstellt. Für eine spätere Nutzung der Aufnahmen ist es sehr hilfreich, dass Berthold Socha seine Fotos zeitlich und inhaltlich sehr genau beschrieben hat. Für jedes Bild sind Entstehungszeitpunkt und Ereignis oder Situation festgehalten. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben, ist so eine Art Abbild der jüngeren münsterischen Zeitgeschichte entstanden.
Gespräch mit Berthold Socha (46 Min.)
Durchgeführt Februar 2017 im Stadtmuseum Münster
von Dr. Axel Schollmeier, Stellv. Leiter des Stadtmuseums Münster
Technische Bearbeitung: Markus Bomholt, Münster/Hameln
© Stadtmuseum Münster 2023
Kurzvita Berthold Socha
5. Oktober 1940 in Ratibor / Oberschlesien geboren, aufgewachsen in Großenkneten / Oldenburg
seit 1955 wohnhaft in Münster
von 1977–2004 Referent in der Kulturabteilung des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe
verstorben 18. September 2021
Fotografie
Autodidakt, lebte und arbeitete in Münster.
25. Februar 2002 Berufung zum Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Photographie (DGPh)
1991 Mitbegründer der Friedrich-Hundt-Gesellschaft e.V. Verein zur Förderung der Fotografie in Münster – Vorsitzender bis Dezember 2009 –
1965 Mitbegründer der „fotogruppe oculus“
Auszeichnungen
Narvik und Tokio für hervorragende fotografische Leistungen
Bildautor der Publikationen
2019 Katalog „Fabrik.Denkmal.Forum“
2019 Katalog „SKULPTUR PROJEKTE MÜNSTER“
2017 Katalog „Motiv Hochofen 1987–2017“
2016 Katalog „Menschen – menschlich“
2014 Katalog „Gesehen – Fixiert / Skulpturen und Installationen“
2009 Katalog „Photographien 1969–2009“
1991 Belichtungszeit - Westfalen eine Landschaft in Europa
1985 Bestandsaufnahme – Stillgelegte Anlagen aus Industrie und Verkehr in Westfalen
1981 Westfälisches Freilichtmuseum Detmold
1978 Kreisstadt Coesfeld
Vertreten in öffentlichen und privaten Sammlungen.
Ausstellungen im Stadtmuseum Münster
1977 – 1987 – 1997 – 2007. Skulptur Projekte Münster, Stadtmuseum Münster 2017
Auf Münster fixiert. Fotografien 1970–2020, Stadtmuseum Münster 2020