Viktoria Luise und die ältesten Luftbilder der Stadt Münster
Das Stadtmuseum Münster besitzt in seiner Sammlung historischer Fotografien drei Aufnahmen vom Besuch und der Landung des Zeppelins Victoria Luise in Münster am 9. Juni 1912 (Abb. 1–3). Vor 100 Jahren war diese historische Begebenheit ein bedeutendes Ereignis, über das die Presse ausführlich berichtete.
Der Besuch eines Zeppelins 1912
Von einem leider unbekannten, wohl ortsansässigen Fotografen wurden umgehend für die münsterischen Bürgerinnen und Bürger zur Erinnerung an den Besuch dieses mächtigen Luftschiffes beschriftete Foto-Abzüge in Postkartengröße angefertigt, die bereits wenige Tage später versandt werden konnten. Offenbar wurden an jenem Tag aus der Frühzeit der Luftfahrtgeschichte während der Rundfahrt über der Stadt auch die ersten Luftaufnahmen von Münster angefertigt, von denen eine als gedruckte Postkarte hergestellt und vertrieben wurde.
Der Besuch am 9. Juni 1912 in Münster
Von Düsseldorf kommend traf Viktoria Luise am 9. Juni 1912 in Münster ein.
Nach einem längeren Rundflug über die Stadt, bei der die Fotoaufnahmen (Abb. 1, 2), vermutlich u.a. vom Turm der Josefskirche an der Hammer Straße angefertigt wurden, landete sie auf dem Flugplatz auf der Loddenheide.
Der Besuch war vom münsterischen Luftschiffahrtsverein organisiert worden, die örtliche Presse würdigte ihn mit beeindruckenden Worten. Die Rede war vom stolzen Segler der Lüfte, vom Luftkreuzer, dem weißgrauen Torpedo der Lüfte und vom majestätischen Zeppelin. Schon bei der Überfahrt über Münster jubelten die Bürger dem Schiff, seiner Besatzung und den Passagieren zu, bei der Landung fanden sich zahlreiche Menschen auf der Loddenheide ein.
Zwei der drei Fotos der Sammlung des Stadtmuseums befinden sich in einem alten Postkartenalbum mit Karten aus Münster und Umgebung. Sie wurden von dem offenbar noch jungen Karl Gustav von Recklinghausen schon am 12. Juni, also bereits drei Tagen nach der Landung, an seine Mutter in Stolberg am Harz, als Postkarten gesandt. Auf die Karte von der Landung (Abb. 3) notierte er: „Liebe Mama, diese Karte zeigt dir das Zeppelinschiff Victoria Luise auf der Loddenheide. Die Grösse erkennst Du durch den Vergleich mit den unter dem Luftschiff stehenden Menschen. Es ist 30 m länger als der „Kaiser“, mit dem wir nach Westerland fuhren. Die Helmspitze des im Vordergrund haltenden Kürassiers zeigt auf die Passagierkabine, die ähnlich wie ein Speisewagen eingerichtet ist. Diese, wie die gleichzeitig eintreffende zweite Karte (Anm. Abb. 1) leg bitte in das Album Münster. – Mit herz. Gruss Gustav.“ Die Mutter erfüllte den Wunsch des Sohnes, das Album gelangte vor einigen Jahren in den Besitz des Stadtmuseums und damit die Karten wieder „an den Ort des Geschehens“ zurück.
Der Besuch von Charlotte acht Tage zuvor
Heute weitgehend unbekannt ist, dass bereits acht Tage vorher, am 2. Juni 1912 das Parseval Luftschiff Charlotte Münster einen Besuch abgestattet hatte und demnach das erste Luftschiff über Münster war. Von diesem Ereignis liegen aber offenbar keine historischen Fotografien vor, ein Aspekt, der sicher dazu beigetragen hat, dass dieses Ereignis fast in Vergessenheit geraten ist. Fotos als Beleg für die „Wahrhaftigkeit“ eines Ereignisses spielen eine entscheidende Rolle in der Erinnerungskultur des 20. Jahrhunderts. Ihr Fehlen beeinflusst daher, vor allem in der heutigen medialen Welt, oft die Wahrnehmung und Bedeutung von historischen Geschehnissen. Vermutlich waren die Bürger Münsters und auch die örtlichen Fotografen von dem Besuch so überrascht, dass keine Zeit bleib, Kameras in Position zu bringen.
Unter der Bezeichnung Parseval entstanden unter August von Parseval (1861–1949), einem Konkurrenten des Grafen Zeppelin, zwischen 1909 und 1919 insgesamt lediglich 22 Luftschiffe. Anders als die Zeppeline waren die Parseval Luftschiffe (PL) nicht mit einer starren Hülle ausgestattet, sondern eigentlich „nur“ lenkbare wasserstoffgefüllte Ballone.
Die PL 12 Charlotte wurde für die Rheinisch-Westfälische Flug- und Sportplatz-Gesellschaft mbH Wanne-Herten gebaut und dort für Rundfahrten genutzt. Ihre erste Fahrt hatte sie am 11. Mai 1912, also erst gut drei Wochen vor dem Besuch in Münster.
Wie Viktoria Luise war sie nach einer damals bekannten Frau benannt, nach Charlotte von Preußen (1860–1919), der Schwester von Kaiser Wilhelms II., die durch ihre Heirat zur Herzogin von Sachsen-Meiningen geworden war.
Mit einer Länge von 82 Metern war die PL 11 Charlotte deutlich kleiner als die Viktoria Luise, ihre Reisegeschwindigkeit betrug lediglich 48 km/h. Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 war sie auf dem Flugplatz Herten–Wanne–Eickel–Herne stationiert.
Dort entstanden auch einige der wenigen Fotos (Abb. 4a,b) dieses Luftschiffes, das sich in der Form deutlich von der Viktoria Luise unterscheidet.
Die frühesten Luftbilder von Münster aus dem Jahre 1912
Während der Besuch der Charlotte 1912 offenbar keine sichtbaren Spuren in oder für Münster hinterlassen hat, ist mit dem Besuch der Viktoria Luise ein anderer interessanter Aspekt der münsterischen Stadtgeschichte verbunden. In dem bereits erwähnten Postkartenalbum, in dem sich die Bilder der Fahrt und der Landung in Münster befinden (Abb. 1 und 3), liegt auch eine weitere Postkarte vor, welche eine Luftaufnahme zeigt, die aus der Kabine der Viktoria Luise bei ihrer Rundfahrt über Münster angefertigt worden ist (Abb. 5).
Sie wurde in der Kunstanstalt Hermann Lorch in Dortmund gedruckt. Der Fotograf war Rudolf Lichtenberg junior (1875–1942) aus Osnabrück, der dort ein fotografisches Atelier führte, welches bereits 1891 von seinem Vater, dem Maler und Fotograf Rudolf Lichtenberg senior (1844–1908) gegründet worden war. Er lieferte Anfang des 20. Jahrhunderts zahlreiche Motive für Postkarten aus Osnabrück.
Postkarten mit Luftaufnahmen von Münster besitzt das Stadtmuseum Münster in großer Zahl, sie stammen ansonsten jedoch alle aus der Zeit der 1920er Jahre bis in die Gegenwart. Demnach kann nicht ausgeschlossen werden, das von Rudolf Lichtenberg am 9. Juni 1912 die erste Luftaufnahme der münsterischen Innenstadt angefertigt worden ist. Systematische Befliegungen mit Flugzeugen fanden erst in den 1920er Jahren statt.
Seit der Gründung des Luftschiffahrts-Verein für Münster und das Münsterland, dem heutigen Freiballonsport-Verein Münster und Münsterland e. V. am 18. Oktober 1909 gab es in Münster einen sehr aktiven Verein, der mit mehreren Gasballonen Fahrten, auch über Münster durchführte.
Weitere frühe Luftbilder
Ein professioneller Fotograf scheint aber bei diesen frühen Fahrten nicht im Korb unter dem Ballon mitgefahren zu sein. Auf der Titelseite der Dezemberausgabe der Deutschen Luftfahrer Zeitschrift von 1912 ist jedoch eine weitere Luftaufnahme von Münster abgebildet, die von Alwin Henze aus Münster aus einem Gasballon aufgenommen worden war. Henze gehörte bis 1914 zu den aktivsten Mitgliedern des münsterischen Vereins, war jedoch kein Berufsfotograf sondern Kaufmann. Wann diese Aufnahme genau entstand ist unbekannt. Möglicherweise wurde Henze, der zwischen 1910 und 1912 zahlreiche Ballonfahrten, u.a. mit dem Ballonfahrerpionier Ferdinand Eimermacher (1881–1961) aus Münster unternahm, durch die Postkarte mit der Aufnahme aus der Viktoria Luise inspiriert. Weitere unmittelbar 1912 als Postkarten oder in Büchern veröffentliche Luftaufnahmen aus Münster sind bisher nicht bekannt. Auch in zwei im September 1912 herausgegebenen Büchern bzw. Sondernummern einer Zeitschrift, in denen zahlreiche professionelle Aufnahmen aus Münster publiziert wurden, sucht man vergebens nach Luftaufnahmen. Allerdings scheint Rudolf Lichtenberg 1912 nicht nur eine Aufnahme angefertigt zu haben. In der Sonderausgabe Deutschlands Städtebau. Münster in Westfalen (Berlin 1920) findet sich eine weitere Aufnahme des Ludgeriviertels vom Luftschiff, die nur 1912 gemacht worden sein kann.
Demnach scheint es tatsächlich so zu sein, dass der Osnabrücker Lichtenberg 1912 die frühesten Luftaufnahmen von Münster anfertigte. Zuvor waren die höchsten Punkte, von denen man einen Blick über die Stadt fotografieren konnte, die Türme der Kirchen gewesen. Mit Viktoria Luise zog daher ein neues Zeitalter für Münster herauf. Heute, genau 100 Jahre später in Zeiten von Google Earth, ein kaum mehr vorstellbarer Quantensprung in der Erfassung der Stadttopographie aus der Vogelperspektive.
Weitere Besuche von Luftschiffen in Münster
Nach den beiden Besuchen der Luftschiffe Charlotte und Viktoria Luise 1912 kam es erst wieder während des Ersten Weltkriegs (1914–1918) zu weiteren – militärisch bedingten – Überfahrten über Münster, jedoch nicht mehr zu Besuchen oder Landungen:
· 26. Mai 1915: Überfahrt eines Zeppelins über Münster
· 29.8.1916: Überfahrt eines Zeppelingeschwaders auf dem Weg zum Angriff auf England über Münster
· 1917: Überflug eines Zeppelins über Münster
Zwischen 1929 und 1931 besuchte die Graf Zeppelin (LZ 127) insgesamt drei Mal Münster, 1930 und 1931 „beehrte“ sie die Stadt sogar mit einer Landung:
· 12.9.1929: Überfahrt über Münster
· 15.6.1930: Landung auf der Loddenheide
· 16.8.1931: Landung auf der Loddenheide
Die letzte Landung eines Zeppelins fand anläßlich eines Großflugtages 1939 mit dem Besuch der Graf Zeppelin II (LZ 130) statt:
· 23. Juli 1939: Landung auf dem Flugplatz Münster-Handorf
Nach der „Hindenburg-Katastrophe“ 1937 wurde der Bau von neuen Zeppelinen eingestellt.
Zwischen 1912 und 1939 kam es daher lediglich zu fünf Besuchen mit Landungen der Charlotte, der Viktoria Luise und der beiden Luftschiffe Graf Zeppelin und Graf Zeppelin II in Münster.
Literaturhinweise
Spezielle Literatur zu diesen frühen Besuchen von Luftschiffen in Münster und dem Beginn der Luftaufnahmen von Münster liegt nicht vor, Hinweise finden sich u.a. in folgenden Werken:
350 Jahre Post in Münster, Vom Friedensreiter zur Satellitenkommunikation. Ausstellung im Stadtmuseum Münster 15. Oktober 1993 bis 30. Januar 1994, hg. vom Postdienst, Direktion Münster und der Telekom, Direktion Münster, Münster 1993, S. 100–101.
Ballonfahren in Münster. 75 Jahre Freiballonsportverein Münster und Münsterland e.V., hg. vom Freiballonsport-Verein Münster und Münsterland e.V., Münster 1984, S. 22, 40–43.
Festschrift für die Freiballon-Wettfahrt Münster i.W. am 15. Juni 1930, Münster 1930, S. 23–24.
Münster im Flugverkehr, Das Schöne Münster, 11. Heft Oktober 1929, Münster 1929.
Ernst Kühl, 50 Jahre Sportfliegen in Münster. Das schöne Münster NF Heft 24, Münster 1960, S. 12–14.
Hannes Lambacher, Rundflug über das alte Münster. Fotografien aus den 20er und 30er Jahren, Guldensberg-Gleichen 2003.
Hans Langenfeld/Klaus Prange, Münster – die Stadt und ihr Sport. Menschen, Vereine, Ereignisse aus den vergangenen beiden Jahrhunderten, Münster 2002, S. 172.
Eduard Schulte, Kriegschronik der Stadt Münster 1914/18 (Quellen und Forschungen zur Geschichte der Stadt Münster VI), Münster 1930, S. 112 und Abb. auf Tafel 31.
Siehe auch Zeppelinmuseum Friedrichshafen